„Morgen gibt es Schnee.“ Die deutsche Sprache kann etwas, was viele andere Sprachen nicht können: mit Hilfe der Grammatik die Zukunft in die Gegenwart holen. Das hat Vor- und Nachteile. Eigentlich liegt „morgen“ in der Zukunft. Dennoch können wir statt „Morgen wird es Schnee geben.“ eben auch „Morgen gibt es Schnee.“ sagen.
Welche Auswirkungen hat dieses futurische Präsens auf die Menschen? Zuerst die gute Nachricht: Es gibt die berechtigte Annahme, daß dies sogar dem Wohlstand zuträglich ist. Das berichtete unlängst die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Der Wirtschaftswissenschaftler Keith Chen von der Universität Kalifornien in Los Angeles ist der Meinung: Wenn man sprachlich die Zukunft in die Gegenwart holt, erleichtert dies zukunftsorientiertes Verhalten.
Erfolg mit Präsens
Für diese These gibt es nun einen wissenschaftlichen Beleg: In der Südtiroler Stadt Meran spricht eine Hälfte der Bevölkerung von Haus aus Italienisch, die andere Deutsch. Im Italienischen gibt es das futurische Präsens nicht. Eine Gruppe um Matthias Sutter vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern hat herausgefunden, daß sich die Selbstkontrolle von 1.156 Grundschulkindern je nach Muttersprache unterscheidet.
Den Schülern wurden kleine Geschenke versprochen. Sie konnten entscheiden: entweder zwei am Ende des Schultags oder fünf Geschenke nach vier Wochen. Tatsächlich war jedes zweite deutschsprachige Kind bereit zu warten. Bei den italienischsprachigen Kindern war das nur bei einem Drittel der Fall.
Geduldige Kinder haben später bessere Berufschancen und werden seltener süchtig. Ist das futurische Präsens also der reine Segen? Leider ist das nicht der Fall. Es kann sogar zur großen Last werden: „Morgen stehe ich um 6 Uhr auf. Dann gehe ich ins Büro. Dann muß ich noch einen Berg von Akten bearbeiten.“
Streß mit Präsens
Mechthild von Scheurl-Defersdorf warnt vor dem übermäßigen Gebrauch des futurischen Präsens, weil es zu Streß führt. Sie rät dazu, wieder mehr auf das Futur zu achten: „Erlaube dir Zukunft! … Das Futur schafft einen deutlichen Abstand zwischen jetzt und später.“ In unserem Beispiel wäre das also: „Morgen werde ich um 6 Uhr aufstehen. Dann werde ich ins Büro gehen. Dann werde ich noch einen Berg von Akten bearbeiten.“ Klingt im Vergleich zu vorher schon etwas weniger bedrohlich, oder?
Die Kunst besteht also darin, nur so viel aus der Zukunft in die Gegenwart zu holen, wie es uns gut tut. Holen wir jedoch zu viele Verpflichtungen und Aufgaben ins Präsens, kann uns das überfordern, unter Druck setzen und sogar schlaflose Nächte bereiten. Werden wir uns dann wieder an das gute alte Futur erinnern?
Thomas Paulwitz
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