Theodor Ickler, Pforzheimer Versandhandel und Martin Mosebach
„Vor ihm erzittern die Reformer“
Theodor Ickler ist unser Rechtschreibwahrer des Jahres
Von Manfred Riebe
Theodor Ickler ist Professor für Deutsch als Fremdsprache am Institut für Germanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat sich als einer der ersten gegen die sprachzerstörerische sogenannte Rechtschreibreform gewandt und seitdem unermüdlich gegen sie gekämpft. Der Fachwelt ist er seit Jahren durch seine zahlreichen sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen bekannt, unter anderem durch sein Rechtschreib-Wörterbuch, das im Jahr 2000 in bewährter Rechtschreibung erschien und für gehörige Mißstimmung beim Mannheimer Duden-Verlag sorgte.
Professor Ickler vertrat als Sachverständiger bei der Anhörung vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 2. Juni 1997, bei der Anhörung der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung am 23. Januar 1998 in Mannheim sowie bei der Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht am 12. Mai 1998 in Karlsruhe die Initiative „Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform“ und den „Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V.“. Darüber hinaus hat sich Professor Ickler in zahlreichen Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Versammlungen, Briefen und Einzelgesprächen unter erheblichem persönlichen Einsatz gegen die Rechtschreibreform gewandt und ist überzeugend und entschieden für die Wahrung der bisherigen bewährten einheitlichen Rechtschreibung eingetreten.
Auch im vergangenen Jahr ist Theodor Ickler in außerordentlichem Maße für die Bewahrung der Eindeutigkeit und Klarheit der deutschen Schriftsprache eingetreten. Neben Vorträgen und zahlreichen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften hat er besonders auf den Netzseiten der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform“, www.rechtschreibreform.com, und der DEUTSCHEN SPRACHWELT, im Forum von www.deutsche-sprachwelt.de, wie kein anderer unermüdlich täglich mehrere hervorragende Beiträge geschrieben. Ein besonderes Ereignis war im März 2001 das Erscheinen seines Buches „Regelungsgewalt“, in dem Ickler die Leser über die von den Kultusministern, Rechtschreibreformern und den Medien verschwiegenen Hintergründe der Rechtschreibreform aufklärt. Auf die Titelseite schrieb Ickler ein Wort von Johann Wolfgang von Goethe: „Mir wird, je länger ich lebe, immer verdrießlicher, wenn ich den Menschen sehe, wie er gerade das Gegenteil tut von dem, was er tun will, und alsdann, weil die Anlage im Ganzen verdorben ist, im Einzelnen kümmerlich herum pfuschet.“
Krönendes Ereignis war schließlich die Verleihung des mit 15.000 Mark dotierten Deutschen Sprachpreises 2001 der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache am 21. September 2001 im Wittumspalais in Weimar. Anläßlich der Verleihung druckte die DEUTSCHE SPRACHWELT in ihrer 5. Ausgabe ein Gespräch mit Ickler ab. Die Stiftung würdigte mit dieser Auszeichnung vor allem Icklers Arbeiten auf dem Gebiet der Orthographietheorie und Orthographiegeschichte. In seinen drei Büchern „Die sogenannte Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich“ (2. Auflage 1997); „Kritischer Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ (2. Auflage 1999) und „Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform“ (2001) habe Theodor Ickler die durch die Rechtschreibreform erfolgten Eingriffe in das gewachsene deutsche Orthographiesystem einer ebenso umfassenden wie konstruktiven Kritik unterzogen. Zugleich habe er in seinem „Rechtschreibwörterbuch“ (2. Auflage 2001) eine vorbildliche Aufbereitung und Darstellung der bewährten deutschen Rechtschreibung geboten.
Mit seinen Büchern und Beiträgen zur Rechtschreibreform habe Theodor Ickler der deutschen Sprachgemeinschaft und ihrer Kultursprache einen großen Dienst erwiesen und den Weg gezeigt, der aus der gegenwärtigen Krise der deutschen Rechtschreibung herausführen könne. Ein Journalist schrieb nicht zu Unrecht: „Vor ihm erzittern die ‘Reformer’.“
Werbekataloge in verständlichem Deutsch
Der Pforzheimer Versandhandel ist unser Wortschatzwahrer des Jahres
„Wer nicht wirbt, der stirbt“ – und so kann es sich in einem wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystem kein Unternehmen leisten, auf Werbung zu verzichten. Deshalb hören und sehen wir tagtäglich bewußt oder unbewußt unzählige Werbebotschaften. Seit es Werbung gibt, läßt sich auch trefflich über deren Qualität streiten. Aber in den letzten Jahren kam ein zusätzliches Ärgernis hinzu: Immer mehr Firmen gingen dazu über, ihre Kunden in Deutschland auf englisch oder engleutsch anzusprechen.
Unternehmen und Werbeleute meinten, sich mit englischen Wortbrocken und Satzfetzen einen modernen, internationalen Anstrich geben zu müssen. Aber Hand aufs Herz: Wer kann denn schon die folgenden aufgeblasenen Sprüche, die teilweise an Banalität kaum zu unterbieten sind, den damit werbenden Unternehmen zuordnen? Leading to results, There’s no better way to fly, fashion for living, energizing your business. Dabei wissen echte Könner aus der Werbebranche, daß die Verwendung von Anglizismen ein „Kardinalfehler der Markenkommunikation“ ist (siehe die in der 5. Ausgabe der DSW auf Seite 2 abgedruckte Aussage von Jean-Remy von Matt, dem Mitinhaber einer namhaften Werbeagentur). Doch offensichtlich beherzigen viel zu wenig Unternehmen diese Erkenntnis. Zu sehr scheinen sie den Anglizismen-Gaukeleien einfallsloser Werbetexter aufzusitzen.
Aber glücklicherweise gibt es noch Firmen, die ihre Botschaft in überwiegend verständlichem Deutsch ihren Kunden vermitteln. Dazu gehören die in Pforzheim ansässigen Versandhandelsunternehmen Bader, Klingel und Wenz. Während es beispielsweise in den Katalogen von Otto nur so von Anglizismen wimmelt und Quelle dem kaum nachsteht, sind im Vergleich dazu die Kataloge der drei genannten Pforzheimer Firmen fast schon Oasen der Verständlichkeit. Kaum mehr erträglich ist im Gegensatz dazu ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Otto-Hauptkatalogs: modern fashion, Flashlights, Casual Shop, Home-Entertainment, Badshop usw., usw. Man könnte Seiten damit füllen. Da vermutet werden kann, daß die Verantwortlichen bei Otto die Marktuntersuchungen kennen, in denen die Merkmale der typischen Versandhandelskunden dargelegt werden, kann man über diese imponiergefaselte Sprachvernebelung nur den Kopf schütteln.
Sicherlich gibt es für gestrenge Anglizismenjäger in den Katalogen der Pforzheimer Firmen manches zu bemängeln. Es ist leider so, daß Produktbezeichnungen wie Shirt, Fleece-Jacke, Blazer Eingang in den Alltagssprachgebrauch gefunden haben. Aber Shopping, Power, Basic, Lifestyle oder ähnliches müssen wirklich nicht sein und lassen sich vermeiden, wie die Pforzheimer Versandhäuser zeigen. Bemerkenswert ist, daß es Klingel doch tatsächlich schafft, für die Seitenüberschriften nahezu durchweg klares Deutsch zu verwenden. Verständlich sind ebenso Produktbeschreibungen und Preisdarbietungen. Bader zeigt, daß gute Werbemittel auch mit verständlichem Deutsch gestaltet werden können. Zeitweilig liebäugelte man bei der Nummer zwei in Pforzheim mit zeitgeistgetränkten englischen Werbesprüchen. Aufgrund zahlreicher Proteste kehrte Bader wieder zu einer verständlichen Kundenansprache zurück. Die ehemalige Kaufhof-Tochter Wenz brauchte einige Zeit, bis es das deutsch-englische Kauderwelsch wieder zurückfuhr. Das von Klingel übernommene Unternehmen hat sich unter dessen Einfluß wieder eines Besseren besonnen.
Alle drei Versandhäuser schalten auch Anzeigen in der Tagespresse, die nahezu anglizismenfrei sind. Bei den Weltnetzauftritten hebt sich Klingel wohltuend vom sonst üblichen Schauderwelsch der anderen großen Versender ab. Während bei Wenz einige Anglizismen stören, muß bei Baders Netzauftritt noch einiges verbessert werden. Da sollten sich die Weltnetzverantwortlichen die Kataloggestalter aus dem eigenen Haus endlich zum Vorbild nehmen. Lobenswert ist auch, daß Klingel und Bader einsatzfreudige Sprachpfleger nicht als vermeintliche „Spinner“ links liegen lassen, sondern deren Anregungen ernstnehmen. So unterstützten sie eine Protestbriefaktion von Sprachschützern mit Firmengutscheinen für die eifrigsten Protestschreiber. Sie dankten ihnen für den Einsatz für die Sprache (vgl. 5. Ausgabe der DSW, Seite 11).
Ein literarisches Gemälde
Über ein Buch* von Martin Mosebach, unserem Sprachstilwahrer des Jahres
Von Thomas Paulwitz
Blau, Rot und Schwarz. Mit diesen drei Hauptfarben gelang es Martin Mosebach, einen ganzen Roman zu malen. „Eine lange Nacht“ ist ein literarisches Gemälde, das in Sprache und Stil wahrhaft großartige Erzählkunst bietet.
Mosebach bedient sich der Farbpalette Goethes, dessen Hauptfarben Weiß, Schwarz, Gold, Blau, Grün und Rot waren und der in seine Farbenlehre die Eindrücke italienischer Landschaft und Malerei eingehen ließ. Bereits in dem Prosaband „Die schöne Gewohnheit zu leben. Eine italienische Reise“ (1998) hat Mosebach in elf Stücken seine malerisch-literarischen Fertigkeiten unter Beweis gestellt.
Zum Inhalt: Ludwig Drais, der sein Studium der Rechtswissenschaft abgebrochen hat, findet eine neue Daseinsberechtigung, indem er in einem Kellerbüro in Frankfurt am Main als „Generalmanager“ den Verkauf pakistanischer Billighemden organisiert. Ihm zur Seite stehen die Sekretärin Bella Lopez und ihr Ehemann Fidi, das „Mädchen für alles“. Ludwig beginnt mit der blonden Bella eine Affäre. Dieser kurze Abriß mag genügen, denn „Eine lange Nacht“ gewinnt ihre Meisterhaftigkeit nicht aus einem komplizierten und dramatischen Handlungsstrang. Die Fabel ist alltäglich.
Die Gedanken über sein bisheriges Leben, die Ludwig nach dem Tod des Vaters beschäftigen, stellen eine nahezu unverhüllte Anspielung Mosebachs auf seinen handlungsarmen Roman dar, wenn er sich gleichsam rechtfertigt: „Und dann – wo waren die Taten, die klaren bewußten Handlungen? Wer hatte zu einem bestimmten Zeitpunkt eigentlich was genau gewollt und dann getan? […] da gab es doch nichts Faßbares […]. Zufälle, Wohlsein, Unwohlsein, Ängste, Erregungen, Freudenfeuerchen und ihr Zusammenfallen und Erlöschen bildeten den Lebensstoff. Er war flüchtiger als Staub von Schmetterlingsflügeln, und er verlor seine Farbigkeit, wenn man ihn aufsammelte und das Häufchen in einer Vitrine ausstellte“ (S. 538).
Damit liefert Mosebach die Begründung für die Nachrangigkeit der Handlung: Ihm geht es vor allem um die Farbigkeit der Sprache! Deswegen wollen wir hier von einem Aufsammeln und Zurschaustellen absehen und uns lieber der Betrachtung des literarischen Gemäldes widmen. Für die recht gewöhnliche Handlung mit farbtiefem Hintergrund steht symbolisch das Liebermann-Gemälde „Strand bei Zingst“ am Anfang des Romans, das dem Meister beim Freilandmalen in den Sand gefallen und ein unscheinbares Fragment geblieben war.
„Wenn die rote Farbe erscheint, verspüren wir eine Annäherung und Beschleunigung der Beziehungen – das Blaue dagegen ruft das Gefühl der Entfernung und Verzögerung hervor“, schreibt Ernst Jünger im „Abenteuerlichen Herz“ über „Die blaue Farbe“. Auch Mosebach nutzt diese beiden Farben, um Nähe und Ferne zu unterstreichen. Die Hauptfigur Ludwig Drais mit aquamarinblauen Augen und dicken roten Haaren (vgl. S. 134) vereinigt diese beiden Farben in sich. Seine Sekretärin Bella, die nur Schwarz trägt (vgl. S. 425), übt auf Ludwig eine starke Anziehungskraft aus. In ihrer Beziehung vereinigen sich die drei Hauptfarben.
„Als er [Ludwig] den Kopf wieder hob, wurde es dunkel. Er glaubte ganz kurz, ihm sei schwarz vor Augen geworden. Es blieb aber viel schwärzer als bei kleinen Schwindelanfällen, deren Dunkelheit einen tiefen Purpurton hat, durch Blitze erhellt und durch das Kreisen runder Flecken bewegt wird. Es war so schwarz wie kein Weiß weiß sein kann.“ (S. 110). Der Strom ist ausgefallen. Die Dunkelheit, die Schwärze bewirkt eine Freiheit von der Farbreiz-Überflutung, einen freien Raum zum Nachdenken.
„So friedlich und auf sich zurückgeworfen wie jetzt in der künstlichen Nacht dieses Hochhauskellers, war er schon lange nicht mehr gewesen.“ (S. 114). Ludwig meint: „Wir erleben viel zu wenig richtige Dunkelheit.“ (S. 127). Die Dunkelheit sei bei allem Wandel das einzig Stabile. Aber auch seine Schwächen kann er im Dunkeln nicht vor sich selbst verstecken. „Nachtluft war wie ein Tauchbad, ein Schwimmen im salzigen Meer, das alles abwusch“ (S. 413). So wirkt das Schwarze wie eine Befreiungsfarbe, mit deren Hilfe man alle Farben (und auch Gerüche) wieder schärfer wahrnehmen kann. So sticht nach der Wiederkehr des Lichtes der „krebsrote Lippenstift“ seiner Sekretärin ihm in die Augen (S. 126).
Regiert eine der drei Hauptfarben, dann erscheinen bisweilen Bilder großer Meister. In völliger Dunkelheit erinnert sich Ludwig an das Gemälde des Wright of Derby, „Das Experiment mit der Luftpumpe“ (S. 114). Bei diesem physikalischen Versuch wurde ein Vogel durch Sauerstoffentzug ohnmächtig gemacht und anschließend durch Luftzufuhr wieder zum Leben erweckt. Es ist dasselbe, was im übertragenen Sinne im Dunkeln mit Ludwig geschieht: ein Tod und eine Wiederauferstehung – schwarze Befreiung.
Bei seinem Besuch der alten Dame Frau Rüsing läßt diese ihren Blick auf einer „Reproduktion aus Picassos blauer Periode“ ruhen. Das Bild zeigt ein Liebespaar, „das Ganze mit fahlem Blau übergossen, der Inspirationsquelle aller Zeichner, die Mensch und Reh zum Bambi werden lassen“ (S. 135). Es wirke „so keusch“, meint Frau Rüsing. Die alte Dame strahlt Reife aus – blaue Ferne.
Ludwig sieht immer wieder von seiner Wohnung hinunter auf das Kellerfenster, hinter dem Bella mit ihrem Mann Fidi lebt. Meist verdeckt ein roter Vorhang das Fenster. Eines Abends ist der Vorhang zurückgeschlagen, und Ludwig erblickt in einem roten Lichtschein die gebadete, handtuchumschlungene Bella: „Dieses Bild senkte sich in Ludwigs Seele und traf auf eine Stelle, die dort vorbereitet war“(S. 292). Selbstironisch vermerkt der Erzähler etwas später: „Das rote Licht war nur ein Topos, ein ziemlich vulgärer sogar, der Ludwigs Geschmack nicht das beste Zeugnis ausstellte. In keinem Roman hätte der Autor im Zusammenhang mit einer Liebesszene das rote Licht einschalten dürfen“ (S. 300). Hier schon, da das Rot mehr als nur den Eros symbolisiert! – Rote Nähe.
Das alles sind nur ausgewählte, aber wichtige Beispiele dafür, wie geschickt und mit welcher Absicht Mosebach Farben einsetzt. Diese Symbolik zieht sich wie ein bunter Faden durch das Buch. Etwas anderes spürt man jedoch während des Lesens auch noch: die Sehnsucht nach der Idylle. Sie erscheint, wenn die Farben zu harmonieren beginnen. Sei es „ein reinlicher kalter Herbsttag mit strahlender Sonne im Rheingau“ in der Phantasie Ludwigs (S. 140), sei es eine Straße in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs („Ludwig sah die Münchener Straße auf einmal wie ein Maler“ – mit Kritik an der Detailtreue Canalettos – S. 252), sei es gar – nach reichlich Alkoholgenuß – die dicke Hermine, die Besitzerin eines schmuddeligen Bierlokals (S. 406).
Doch die Idylle trägt immer die Vergänglichkeit in sich, man denkt an Faust: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“ So beim idyllischen Sonnenaufgang, der Rosa, Hellblau, Rotgold erzeugt hatte: „Als sie [die Sonne] dann voll und frei am Himmel stand, […] sah sie schon viel weniger majestätisch aus“ (S. 493). Die Idylle ist nur ein Idealbild, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Das verkörpert auch die Romanfigur des Professors für Kirchengeschichte, Gessner, die erst am Ende des Buches erscheint. Gessner hält für ein paar alte Leute in einem Hotelraum einen katholischen Gottesdienst nach alten Riten, die er selbst für längst überholt hält. Die Gottesdienstbesucher bezeichnet er darum abschätzig als „verbohrte Ritualisten“ (S. 567).
Auf die Namensgleichheit mit dem Rokokodichter Salomon Geßner machte mich meine Frau aufmerksam. Geßner pflegte in wohlgesetzter Sprache die Naturidylle, die er mit eigenen Kupferstichen ausschmückte. In seinem Buch „Idyllen“ (1756) schrieb er, daß es einer der angenehmsten Zustände sei, „wenn wir uns“ mit der Einbildungskraft „aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen“. Gleichzeitig war sich Geßner dem Scheinbild bewußt. Die Idyllen paßten nicht „für unsre Zeiten […], wo der Landmann mit saurer Arbeit unterthänig seinem Fürsten und den Städten den Überfluß liefern muß“. – Gewiß, wir sind aufgeklärt; doch die Sehnsucht nach dem Schönen treibt uns.
*Martin Mosebach: Eine lange Nacht; Aufbau-Verlag, Berlin 2000; 575 Seiten, 25,51 Euro.